Er ermordete einen Türken und verließ den Gerichtssaal als freier Mann
Auf offener Straße erschoss Soghomon Tehlirian am 15. März 1921 in Berlin den türkischen Ex-Politiker Talaat Pascha. Es war ein Racheakt für den Genozid an rund einer Million Armeniern im Osmanischen Reich. Der Prozess wurde zur Farce.
Mord kann gerecht sein. Das schien die Lehre eines Attentats zu sein, das ab dem 15. März 1921 die Aufmerksamkeit der Berliner fesselte. Gegen Mittag dieses Dienstags nämlich trat vor dem Haus Hardenbergstraße 17 im eleganten Stadtteil Charlottenburg der Reichshauptstadt ein junger Mann von hinten an einen gut gekleideten Herrn in den besten Jahren heran – und schoss ihm in den Kopf.
Der Täter, ein knapp 24-jähriger Student namens Soghomon Tehlirian, versuchte noch zu flüchten, wurde aber von umstehenden Passanten mit Gewalt daran gehindert. Ein Stockhieb hinterließ eine klaffende, 20 Zentimeter lange Wunde am Oberkörper. So verletzt wurde er der Polizei übergeben. Verärgert über seine Festnahme rief er noch, auf die Leiche weisend: „Er Türke, ich Armenier – kein Deutscher! Was haben Deutsche damit zu tun?“
Schnell kursierten Gerüchte: Das Opfer habe gar nicht Sali Ali Bey geheißen, sondern in Wirklichkeit Talaat Pascha. Es sei zwar richtig, dass es sich um einen türkischen Staatsbürger gehandelt habe, aber zugleich um einen Flüchtling, denn Talaat Pascha sei in seiner Heimat von der pro-britischen Regierung zum Tode verurteilt worden.
Mehr Klarheit brachten rasch Recherchen der Hauptstadtpresse und Anfang Juni 1921 der Prozess vor dem Berliner Schwurgericht. Der Fall schien einfach – Mord auf offener Straße, ein geständiger Täter, zahlreiche Zeugen: Was anderes als mindestens eine langjährige Zuchthausstrafe sollte schon das Urteil sein?
Doch der Angeklagte kämpfte. Drei renommierte Verteidiger ließen eine ganze Phalanx medizinischer Sachverständiger antreten, die alle die Unzurechnungsfähigkeit ihres Mandanten bestätigten. Es gab auch passende Zeugen: Ein Diplomat der 1918 bis 1922 offiziell bestehenden Republik Armenienbeschwor, Tehlirian habe in seiner Anwesenheit einen epileptischen Anfall erlitten. Ein anderer Landsmann schilderte ihn als nervenkrank. Ein dritter, der beim Polizeiverhör im März gedolmetscht hatte, sagte aus, der Täter sei nach dem Anschlag nicht „in normaler geistiger Verfassung“ gewesen.
Ihren größten Trumpf aber spielten die Verteidiger erst danach aus: Sie ließen mehrere Zeugen und den Angeklagten die Gräuel schildern, die türkische Militärs und Milizen seit Frühjahr 1915 an Armeniern begangen hatten. Tatsächlich war der Ermordete als führender Jungtürke, Innenminister und Großwesir mitverantwortlich für den Mord an weit über einer Million Menschen, den ersten großen Völkermord des 20. Jahrhunderts. Musste das Schwurgericht also gar nicht über Mord verhandeln, sondern über einen Akt der Selbstjustiz an einem Massenmörder, begangen im Zustand geistiger Umnachtung?
75 Minuten Beratungszeit benötigten die Geschworenen, dann stand das Urteil fest. Ihr Obmann verkündete: „Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich als den Spruch der Geschworenen: Ist der Angeklagte Soghomon Tehlirian schuldig, am 15. März 1921 vorsätzlich einen Menschen, den Talaat Pascha, getötet zu haben? Nein.“ Der Angeklagte durfte das Gericht als freier Mann verlassen und wanderte wenig später nach Belgrad aus, wo es eine große armenische Exilgemeinde gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es weiter, diesmal in die USA, wo er 1960 im Alter von 63 Jahren starb.
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